Sei mein Gast (Be my guest)
Im Jahr 1990 kamen meine Eltern und ich in einer großen Einwanderungswelle nach Deutschland. Unsere ersten sechs Wochen verbrachten wir in der Turnhalle einer Gesamtschule im nordrhein-westfälischen Meerbusch-Büderich, um später für anderthalb Jahre in einen Wohncontainer zu ziehen. Die Bevölkerung in Meerbusch war sehr zuvorkommend und hilfsbereit. Erst als Erwachsene erfuhr ich, dass das Verlassen der Heimat für ein Kind immer ein Trauma darstellt – ungeachtet dessen, wie freundlich man am neuen Ort aufgenommen wird. Sechzehn Jahre nachdem ich als Schulabgängerin Meerbusch verlassen hatte, war ich endlich innerlich bereit, einen langen Spaziergang zwischen der Turnhalle, unserer späteren Wohnung und meinem einstigen Gymnasium zu machen.
Als Stifterin und Vorsitzende der Stiftung „Kunst der Freiheit“ in meinem polnischen Heimatdorf teile ich mein Wissen und meine Erfahrungen, die ich als Einwandererkind im Deutschland der 90er gesammelt habe. Einwanderung ist keine Einbahnstraße. Wenn beide Seiten sich mit Offenheit gegenüber treten, können beide lernen und wachsen, um etwas Neues zu erschaffen. Nur so ist Fortschritt möglich.
Zuhause
Der Sommer 1990 war höllisch heiß. In der Turnhalle der Maria-Montessori-Gesamtschule in Meerbusch-Büderich lebte etwa ein Dutzend Familien in kleinen, ca. 6 m2 großen Wohneinheiten, die durch mobile Trennwände getrennt waren und Vorhänge anstelle von Türen besaßen. Die Hälfte dieser Einheiten – auch unsere – hatte keine Fenster. Im Juli begann ich mich für meinen Schulbesuch vorzubereiten. Ich war acht Jahre alt und sprach kein Wort Deutsch. Auf einer Tischtennisplatte aus Beton sitzend lernte ich Vokabeln wie „Heft“ und „Mäppchen“. An meinem ersten Schultag schaffte ich es aber nicht in die Schule. Ich bekam Windpocken und somit weitere zwei Wochen Ferien. Auf meinem späteren Schulweg kam ich jeden Tag an diesem Wohnhaus vorbei ohne zu wissen, dass es im Jahr 1992 mein drittes deutsches Zuhause werden würde. Das zweite würde schon bald ein Wohncontainer in einem anderen Stadtteil von Meerbusch werden.
Freiheit
Im Vergleich zu meinen ersten zwei Schuljahren im sozialistischen Polen war die deutsche Schule für mich eine Oase der Freiheit, deren Inbegriff für mich die Spinde waren. Mussten in Polen Schülerinnen und Schüler Tag für Tag Bücher schleppen, konnten die Jugendlichen in Deutschland sie einfach im Spind lassen. Wir konnten überhaupt alles im Spind aufbewahren, was wir wollten. Ich fand es sehr aufmerksam von den Erwachsenen, dass sie uns solche kleinen „Enklaven der Verantwortung“ überließen. Im Verlauf meiner Gymnasialzeit fand ich heraus, dass auch der Lehrstil dieser Idee entsprach: als Individuen durften wir alles in uns herumtragen und es auch verteidigen. Wir selbst waren dafür verantwortlich, was in uns vorging. Am Mataré-Gymnasium brachte man mir bei, dass ich das Recht auf meine eigene Meinung habe – sei es über ein Gedicht, einen Roman oder eine Kurzgeschichte. Ich erfuhr was es bedeutet, ein Individuum zu sein.
Becoming – im Werden inbegriffen
Dieses Foto zeigt den hell erleuchteten Musikraum, den Garten im Schulinnenhof sowie eine Spiegelung des Superman-Graffitos auf der Wand einer der Kunsträume. Diese Bildkomposition ist eine hervorragende Allegorie meiner Person und meiner Biographie. Aus der wunderschönen Landschaft Masurens stammend besuchte ich ein nach dem Künstler Ewald Mataré benanntes Gymnasium, an dem ich mich im Unterricht und darüber hinaus künstlerisch in den Bereichen Musik, Schauspiel, kreatives Schreiben und visuelle Kunst versuchen und entfalten konnte. Zusammen mit ihren wundervollen Lehrerinnen und Lehrern war diese Schule von essentieller Bedeutung für meinen Werdegang als Kulturwissenschaftlerin und Fotokünstlerin. Dabei habe ich nie meine Liebe für die Natur vergessen. 2013 bin ich endgültig in mein masurisches Heimatdorf zurückgekehrt.
Die Außenseiterin
Zu meiner Zeit gab es etwa 660 Schülerinnen und Schüler am Mataré-Gymnansium, von denen vielleicht fünf aus Polen stammten. Der Ort gab mir die Möglichkeit, Menschen aus einer sozialen Schicht kennen zu lernen, die es im sozialistischen Polen nicht gegeben hatte. Die schlimmste Beleidigung unter uns Teenagern war „du Pole“. Ich war eine von ihnen. Das bestritt ich nie. Als Klassenbeste und gut integrierte junge Frau fühlte ich mich trotzdem immer mehr als Außenseiterin – wie dieser kleine Container vor der Turnhalle des Gymnasiums. Es bewegte mich sehr zu hören, dass die Stadt Meerbusch im Jahr 2015 hier Geflüchtete aufnahm. Während meines Spaziergangs im Jahr 2017 sah ich, dass die Turnhalle renoviert wurde. Es war, als ob eine Tür in meinem Leben geschlossen würde. Ich konnte nun einen neuen Lebensabschnitt beginnen.
Ich bin Dein Gast
Es war für mich verwirrend, von so vielen Menschen in Deutschland unterstützt zu werden, um sich anschließend von ihnen dumme Polenwitze anhören zu müssen. Sie waren nicht einmal lustig. Während meiner 11 Jahre in Meerbusch fühlte ich mich häufig wie ein Voyueur, der von außen, durch ein Fenster eine gemütliche Runde beobachtet. Als Schulabgängerin mit dem zweitbesten Abitur und hervorragend integrierte junge Frau, die u.a. als Caritas-Volontärin geflüchtete Kinder betreut und in Deutsch unterrichtet hatte, musste ich hinnehmen, dass der Schulleiter mir eine Empfehlung für ein Stipendium verweigerte, ohne auch nur einen triftigen Grund anzugeben. Zu diesem Zeitpunkt war diese Ablehnung für mich zutiefst erniedrigend und einfach unverständlich. Erst im Jahr 2017 gelang es mir, diese vielen, teilweise auch widersprüchlichen Erfahrungen zu integrieren. Heute weiß ich, dass ich mich jederzeit zu der Runde gesellen kann – überall auf der Welt und nicht nur durch den Hintereingang.
Schutz
Im November 2017 machte ich mich auf zu einem Spaziergang aus dem nordrhein-westfälischen Neuss in das benachbarte Städtchen Meerbusch. Erst jetzt schien ich bei mir angekommen zu sein und meinen Weg zu mir selbst über das Dasein als polnisches Einwanderungskind akzeptiert zu haben. Mein Leben in Deutschland hatte im Sommer des Jahres 1990 in einer kleinen Turnhalle begonnen, in der etwa ein Dutzend Familien ein Obdach fanden, nachdem sie nach dem Mauerfall aus Ostdeutschland sowie Mittel- und Osteuropa eingereist waren. Ich blieb 11 Jahre lang in Meerbusch und verließ mein Kinderzimmer im Further Weg 6 im Jahr 2001, um an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) ein Studium der Kulturwissenschaften aufzunehmen.
Geisterstadt
Nachdem wir 1992 in eine echte Wohnung eingezogen waren, bekam ich eine Zulassung zum nahe gelegenen Ewald Mataré-Gymnasium. Meine Mutter hatte dies durchgesetzt. Obwohl die Empfehlung aus der Grundschule „vielleicht Realschule“ hieß. Ich bin ihr bis heute dankbar für diese Entschlossenheit. Das Gymnasium war wirklich nur wenige Minuten Fußmarsch von unserer Wohnung entfernt, wenn man am Sportplatz vorbeilief und den Hintereingang durch den Biologie- und Chemieteil des Schulgebäudes benutzte. Jedes Mal, wenn meine Großmutter aus Polen zu Besuch kam, wunderte sie sich über die leeren Straßen in unserer Nachbarschaft. Sie nannte Meerbusch eine Geisterstadt. In Polen, wo Autos immer noch ein Luxusgut waren, waren die Straßen damals voller Fußgänger.
Immersion
Zu Beginn meiner Zeit am Mataré-Gymnasium nahm ich an einem Musical-Projekt teil, das an das Mary-Poppins-Musical angelehnt war. Ich sang im Chor. In den Musikräumen (hell erleuchtet, im Erdgeschoss) machte ich neue Bekanntschaften und schloss Freundschaften. Nach dem Schulwechsel ans Gymnasium erkannte erstmals niemand, dass ich eine polnische Einwanderin war. Mein polnischer Akzent war verschwunden! Hier, in diesen Musikräumen, lernte ich meinen bis heute besten Freund kennen. Es war sein Familienhaus, von dem aus ich im November 2017 aufbrach, um diese Fotostrecke zu machen.
Fremdsein
Ich erfuhr die deutsche Lokalbevölkerung von Meerbusch als sehr willkommen heißend, und ich schloss schnell Freundschaften. In der Pubertät und als deutsch-polnischer Teenager mit einem Freund in Polen, der bis heute mein Lebensgefährte ist, entfremdete ich mich allerdings immer mehr von meinen Altersgenossinnen und –genossen. Mir wurde immer mehr bewusst, dass ich nicht wirklich eine Deutsche war. Aber eine Polin war ich ebenso wenig. Im Alter von vierzehn Jahren begann ich, mir mein Leben in Deutschland als eine Art Internat vorzustellen, das ich besuchen durfte, um eines Tages ein gutes Leben in Polen genießen zu können. Diese Zeit war von tiefgründiger Traurigkeit und Einsamkeit geprägt. Bis heute habe ich wiederkehrende Albträume, in denen ich durch die verlassene Stadt Meerbusch radele, aber keinen Ausweg finde. Dieses schmerzvolle Gefühl der Einsamkeit ist ein Teil von mir, den ich zu akzeptieren gelernt habe.
Die sieben Schmerzen Mariens
Auf diesem Foto ist die Niederdonker Kapelle „Maria in der Not“ zu sehen. Die Sieben Schmerzen Mariens stehen im Katholizismus für die Lebensstationen der Mutter Gottes. Der Meerbuscher Siebenschmerzenweg ist eine Allee, die ich fast jeden Tag mit meinem Fahrrad befuhr. Maria ist mein zweiter Vorname, und in Polen war ich einer katholischen Erziehung durch meine Großmutter unterzogen worden. Die durch Ackerfelder führende Allee an der Kapelle war ein symbolischer Ort für mich, der mich an meine katholischen Ursprünge und an mein Heimatdorf erinnerte. Im Jahr 1994, im Alter von 13 Jahren, erklärte ich mich allerdings zur Atheistin. Ich verdankte dies der freiheitlichen Pädagogik an meinem Gymnasium, dank derer ich mich selbstbewusst dem Willen meiner streng gläubigen Großmutter widersetzen konnte.