Postdeutsch/Wiedergewonnen (Poniemieckie/Odzyskane)

Apr 6, 2022 | Projekte

Die Stiftung Kunst der Freiheit ist Mäzenin der Fotoausstellung Postdeutsch / Wiedergewonnen (poln. Poniemieckie / Odzyskane). Die Ausstellung dient als Anreiz zum Nachdenken und zur Diskussion über Identität, historische Kontinuität und das gemeinsame menschliche Erbe, das über nationale und geopolitische Grenzen hinweg fortbesteht. Der Ausgangspunkt für die Betrachtung der Kultur ist dabei die vom Menschen gestaltete Natur in Form der Kulturlandschaft.
Kultur ist dabei die vom Menschen gestaltete Natur in Form der Kulturlandschaft.
Wir gehen davon aus und wünschen uns, dass die Ausstellung durch Polen/Europa reist und Gespräche/Diskussionen/Reflexionen über die Rolle des Menschen in der Natur auslöst, sowie über die Spuren, die er dort in seinem kulturellen Kontext hinterlässt. Mit den in der Ausstellung gezeigten Arbeiten wollen wir auch auf das gemeinsame kulturelle Erbe in europäischen Regionen aufmerksam machen, die heute auf die Hoheitsgebiete verschiedener Staaten verteilt sind, wie Polen, Deutschland, Tschechien oder auch Russland, Litauen und Lettland.
Möchten auch Sie uns zu einer Diskussion über diese Themen einladen und die Fotoausstellung als Ausgangspunkt dazu nutzen? Nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf!

Photoausstellung „Post-Deutsch/ Wiedergewonnen”

 

Landschaft, ähnlich wie Architektur und Raumplanung, unterliegt kulturellem Wandel. Die Art und Weise, wie Felder und Weiden voneinander getrennt werden, die Auswahl der Bäume, welche um Felder herum wachsen oder Alleen formen, Wege durch Wiesen und Wälder, die Art Grundstücke einzuzäunen – hier berühren sich Natur und menschliches Tun.

 

Natur dauert an – unabhängig davon, in welchen Staatsgrenzen sie sich formell befindet.
In der menschlichen Geschichte und auch jener der Staatlichkeit ist Nationalismus als Idee eine Erscheinung jüngeren Datums. Er entstand in Zeiten der Industrialisierung und durch die damit verbundene Verstärkung der menschlichen Mobilität. Mit der Erfindung der Dampfmaschine und dem Ausbau des Schienennetzes begann der Mensch immer größere Distanzen in immer kürzerer Zeit zurückzulegen. Das beeinflusste sein Gefühl der Zugehörigkeit. Reisende, die sich anders bewegten als zu Fuß oder mithilfe des Pferdes begannen sich mit einem größeren geographischen Raum zu identifizieren als nur mit ihrer näheren, direkten Heimat.

 

Heute im Zeitalter der Globalisierung lassen sich gleichzeitig gegensätzliche Richtungen beobachten – die Renaissance der Nationalismen, Weltreisen als Selbstfindung oder Selbstbewerbung auf den sozialen Medien, Leben im Geist der Langsamkeit und Flugscham und zuletzt – Europa der Regionen und die Unterstützung von lokalen Initiativen, subsidiär und auch grenzüberschreitend.

Die Idee und Politik der Europäischen Union erlaubt die Identifikation mit der Region über die Grenzen der Staaten hinaus, was in gewissem Sinne eine Rückkehr in die Vergangenheit darstellt – in die Zeit vor der Entwicklung der nationalen Idee und deren Bindung an konkrete Staaten. Heute wird Heimat wieder zur Stütze von identitätsstiftender Zugehörigkeit.

 

Die Fotokünstlerin über die Ausstellung:

 

In meinen masurischen Landschaften möchte ich darauf aufmerksam machen, was unter der ersten Erkenntnisoberfläche liegt. Ich greife auch nach der Vergangenheit und zeige meine Heimatregion scheinbar außerhalb des menschlichen Kontextes – die Bilder zeigen nicht Menschen sondern Landschaften und architektonische Motive. Die Auslassung des menschlichen Aspektes ist jedoch irreführend, denn sowohl die Architektur wie auch die Gestaltung der Landschaft sind kulturelle Werke, und somit erschaffen durch den Menschen. Die ländlichen Gebiete des Ermlands und Masurens sind zu hohem Grad mit ihrer preußischen Vergangenheit verbunden – sie sind deren Abbild. Indem ich Masuren auf diese Weise fotografiere, unterstreiche ich den zeitlosen Charakter der Region. Die Motive der Bilder sind wie aus dem konkreten politischen Kontext herausgeschnitten, denn die von mir präsentierten Weiden, Wälder und Seen und selbst die Gebäude könnten in dieser Form auch vor einhundert Jahren so existieren.

Dies ist unsere gemeinsame kulturelle Plattform. Heute werden diese Gebiete von Bürgerinnen und Bürgern der Republik Polen bewohnt, vor einhundert Jahren lebten hier Preußen und Preußinnen. Dies ist eine höchst seltsame Situation – das Bühnenbild und die Kulisse sind die gleichen. geblieben, nur die Schauspielerinnen und Schauspieler wurden ausgewechselt.

Die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union ermöglicht Personen, die aus diesen Gebieten kommen, nicht nur die uneingeschränkte Bewegung zu den Orten ihrer Kindheit, sondern auch die Rückkehr dorthin und die Ansiedlung. Im Ermland und in Masuren erhält die Idee vom Europa der Regionen eine völlig neue Bedeutung, zugleich ist es eine irgendwie auch deutsch-polnische Region, aber ohne jegliche Grenzen mit der Bundesrepublik.

Die nationale Minderheit, die immer noch in Ermland und Masuren lebt, hat sich angepasst und wurde unsichtbar. Etwas Ähnliches ist auch in Deutschland geschehen – in umgekehrter Konfiguration, wo wir nach dem Buch von Emilia Smechowski unsichtbare „Strebermigrant:innen“ vorfinden, Polinnen und Polen, die sich so gut in die deutsche Kultur eingepasst haben, dass sie nicht als Ausländer:innen wahrgenommen werden.

 

Ich war auch eine solche unsichtbare „Strebermigrantin“. Im Jahr 1990 emigrierte ich mit meinen Eltern in die BRD, wo ich die Schule und das Studium abschloss. Die Bezeichnung poniemieckie (post-deutsch) im Kontext meiner Familiengeschichte hat daher für mich auch eine persönliche Bedeutungsebene. Mein Leben in Idzbark, dem Dorf meiner Familie, nach der Emigration ist nämlich gerade für mich post-deutsch, und zum reinen Polentum (was auch immer das heißt) habe ich keinen Zugang. Mein Charakter, meine Art auf die Welt zu schauen, dazu gehört auch die Natur meiner familiären Heimat, meine Ansichten, meine Kenntnis zweier Sprachen auf muttersprachlichem Niveau – ist ein Amalgam deutsch-polnischer Erfahrungen.

Wenn ich mit der Kamera durch Wiesen und Wälder in Masuren streife, nehme ich wahr, wie sehr unsere Sinne die kulturellen Eindrücke früherer Bewohner:innen der Region aufsaugen. Personen, die hier nach dem Krieg aufwuchsen, nehmen gleichzeitig, und ohne dies zu bemerken, die Kultur ihrer Familien auf, wie auch die derjenigen, die vor hunderten von Jahren diese Städte, Dörfer und Siedlungen schufen und die formal einen anderen kulturellen Raum vertreten. Diese Einflüsse vermischen sich und erschaffen etwas Neues, das eng mit der Region verbunden ist und nicht mit Nationalität oder staatlicher Zugehörigkeit.

 

In meinen Arbeiten bringe ich etwas ans Licht, das uns gewöhnlich, natürlich, nicht erwähnenswert erscheint, aber das sich dennoch auf unser Gefühl von Heimat/ Zuhause auswirkt und das Menschen, die aus dem ehemaligen Ostpreußen vertrieben wurden, als Objekt der Sehnsucht und der Nostalgie nennen. Das ist die Ebene die wir teilen – in diesen Landschaften wurden vor einhundert Jahren deutsche Kinder groß und jetzt spielen und wachsen hier polnische Kinder auf. Ihre Sinne teilen diese Erfahrungen.

Für mich persönlich hat das Adjektiv „wiedergewonnen“ aber eine viel tiefere und mehrschichtige Bedeutung. Als ich im Jahr 1990 mit meinen Eltern nach Meerbusch-Büderich ausreiste war ich nicht nur am Boden zerstört, mein Heimatdorf verlassen zu müssen. Ich war auch fest entschlossen, eines Tages in dieses Dorf zurückzukehren um mich dort niederzulassen.

Die Bilder sind Zeitzeugen eines mehrjährigen Transformationsprozesses, der mich nnach meiner Rückkehr nach Idzbark nach 23 Jahren Emigration begleitete. Zurück in meinem Heimatdorf stand ich plötzlich vor der Leere und der unendlichen Weite meiner unbekannten, erstmals komplett offenstehenden, nicht geplanten Zukunft. Fotografie erwies sich als eine lebensnotwendige, weil lebensrettende, Maßnahme.

Wiedergewonnen ist hier nicht nur mein Heimatdorf als neuer alter Wohnort. Wiedergewonnen ist auch meine Muttersprache, die ich zwar all die Jahre über sprach jedoch nur wenig schrieb. Die Bilder entstanden begleitend zu den fast täglichen Einträgen auf meinem Blog, das ich erstmals öffentlich zugänglich und in polnischer Sprache führte. Zu guter Letzt bezieht sich „wiedergewonnen“ jedoch auf mich selbst. Nach den Erfahrungen der Ausreise, der Gratwanderung zwischen Kommunismus und Kapitalismus, Dorf und Stadt, Polen und Deutschland schloss sich der Kreis. Nun konnte ich frei wählen, wer ich sein wollte, welche Eigenschaften, Interessen, Fertigkeiten und Fähigkeiten ich mir zunutze machen wollte, um „zu werden“.

 

Die Bilder sind Zeitzeugen eines mehrjährigen Transformationsprozesses, der mich nnach meiner Rückkehr nach Idzbark nach 23 Jahren Emigration begleitete. Zurück in meinem Heimatdorf stand ich plötzlich vor der Leere und der unendlichen Weite meiner unbekannten, erstmals komplett offenstehenden, nicht geplanten Zukunft. Fotografie erwies sich als eine lebensnotwendige, weil lebensrettende, Maßnahme.

Wiedergewonnen ist hier nicht nur mein Heimatdorf als neuer alter Wohnort. Wiedergewonnen ist auch meine Muttersprache, die ich zwar all die Jahre über sprach jedoch nur wenig schrieb. Die Bilder entstanden begleitend zu den fast täglichen Einträgen auf meinem Blog, das ich erstmals öffentlich zugänglich und in polnischer Sprache führte. Zu guter Letzt bezieht sich „wiedergewonnen“ jedoch auf mich selbst. Nach den Erfahrungen der Ausreise, der Gratwanderung zwischen Kommunismus und Kapitalismus, Dorf und Stadt, Polen und Deutschland schloss sich der Kreis. Nun konnte ich frei wählen, wer ich sein wollte, welche Eigenschaften, Interessen, Fertigkeiten und Fähigkeiten ich mir zunutze machen wollte, um „zu werden“.

 

Was ist hier post-deutsch und was ist wiedergewonnen?
Antworten darauf suche ich mithilfe des Kameraobjektivs.